Unter dem Titel Sanbaishan zeigt die Galerie Andreas Binder neue Werke der seit 17 Jahren in Deutschland lebenden, aus China stammenden Künstlerin Haiying Xu.
Stand im Mittelpunkt ihres künstlerischen Schaffens der vergangenen Jahre noch die Zugehörigkeit zu zwei unterschiedlichen Kulturkreisen und die Verbindung von Symbolen der chinesischen Kultur mit Elementen westlicher Lebensweisen, so findet in ihren aktuellen Arbeiten eine zunehmende sowohl inhaltliche als auch ästhetische Rückbesinnung auf ihre kulturellen Wurzeln statt.
Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist die intensive Auseinandersetzung Haiying Xus mit der Geschichte und den stilistischen Besonderheiten der traditionellen Chinesischen Malerei, der im Jahr 2016 ein sechsmonatiger Aufenthalt in Süd-China, u.a. in einem kleinen Bergdorf in der Provinz Jiangxi, in der Nähe des Berges Sanbaishan, folgt. Beeindruckt von der Weite und Schönheit der Landschaft, beschäftigt sie sich fortan mit der Frage, weshalb die frühe Chinesische Malerei in der Lage war, diese Stimmungen in so einzigartiger Weise einzufangen.
Bereits in der Tang-Dynastie im Jahr 400 n. Chr. widmeten sich chinesische Maler der Landschaftsmalerei und ließen die naturgetreue Darstellung der Natur zugunsten des Ausdrucks der Atmosphäre in den Hintergrund treten.
Haiying Xus Orientierung an der Technik dieser frühen Tuschemalerei spiegelt sich in der aktuellen Ausstellung wider. So sind hier nicht nur in der westlichen Tradition der Ölmalerei gehaltene Werke vertreten, deren Ziele die perfekte Abbildung der Realität und die präzise technische Umsetzung von Licht und Schatten sind. Vielmehr verwendet Haiying Xu in den sich auf Ihre Reise nach China beziehenden Gemälden Terpentin und Verdünnungsmittel. Durch das Spiel mit den unterschiedlichen Aggregatszuständen erzielt sie die gleiche Wirkung wie die traditionelle Tuschemalerei, bei der das daotische Yin-Yang Prinzip im Gegensatz zwischen dem männlich harten Strich (Yang) und dem weiblich weichen, nassen Pinselstrich (Yin) zum Ausdruck kommt.
Während in Haiying Xus Werken jedoch das Mädchen als Symbol für das weibliche Yin im Vordergrund stets mit klaren Konturen abgebildet ist, verschwimmen Landschaft und der Berg Sanbaishan als Symbol für das Yang in der Darstellung zunehmend im Nebel und der Weite.
Eine klare Konzentration auf das Weibliche wird auch in der Zuwendung zum Wasser als Symbol für den Yin-Zustand der Ruhe deutlich. Dabei ist das Boot nicht nur eine Allegorie für Kontemplation und Selbstfindung, wie es bereits chinesische Maler von der Tang- bis hin zur Qing Dynastie abbildeten. Nicht den einsamen Künstler auf der Suche nach sich selbst stellt Haiying Xu dar. Vielmehr widmet sie sich dem gemeinsamen Leben auf dem Boot, das für sie Schönheit, Flexibilität, Ökonomie, Romantik und Mystik, aber insbesondere Familie und Freundschaft bedeutet.
Haiying Xus Rückblick auf sich selbst als Kind, als Schwester, Partner, Freund oder Frau, wird zum Weg der Selbsterkenntnis. Und hier verschwimmen auch die Erinnerungsbilder an ihre Kindheit mit Erfahrungen, die sie auf ihrer Reise gemacht hat. Damit verdeutlicht die Künstlerin nicht nur den Einfluss der eigenen Kindheit auf die Gegenwart, sondern verweist gleichzeitig auf die Unvorhersehbarkeit der Zukunft. Das Eintauchen in das Jetzt in einem Moment der Ruhe – in der Malerei und im Leben – wird so zur Grundlage für ihre in den Arbeiten spürbare Neugier und Freude auf alles was kommen mag.
Text: Leni Senger