Open Art 9./10./11. September 2005, bis 12.Oktober 2005
Mythos und Ritual: Das Somati-Fest in Jejuri
Jejuri, Indien, im Juni 2005
Nah ist/Und schwer zu fassen der Gott (Hölderlin)
Vor vielen, vielen Jahren, im "Zeitalter der Wahrheit" herrschten die Dämonenkönige Mani und Malla über die Welt und unterdrückten die Menschheit. Sie überfielen die sieben Seher und Weisen und verwüsteten ihren heiligen Hain. Niemand konnte sie besiegen außer Gott Shiva. So nahm Shiva die Gestalt König Khandoba an und besiegte die Dämonen. Sie wurden mit ihren 700 000 Gefolgsleuten treue Gläubige Khandobas. Als Khandoba wieder seine Gestalt des Askese übenden Gott Shiva annehmen und in seinen Himmel auf dem Berg Kailas zurückkehren wollte, überredeten ihn die Gläubigen, zu ihrem Schutz für immer auf Erden zu bleiben. So leben Shiva und seine Frau Parvati als Khandoba und Mhalsa "hier und jetzt" auf dem irdischen Kailas, 46 km von Pune entfernt, der "Festung Jejuri" mit ihren Mauern und Toren und den 900 000 Stufen, die zum Gott führen.
Khandoba ist der Schutzgott vieler Gesellschaftsgruppen: Maratha-Krieger und - Helden, Kaufleute und Räuber, Hirten und Bauern, Brahmanen und sogar Muslims. Heute sind vor allem Menschen der wachsenden Mittelklasse aus Stadt und Land seine Gläubigen.
Khandoba herrscht über Tod und Leben. Er ist nicht nur der asketische Shiva, sondern auch der Glanz der Sonne. Er erhört Gelübde und fördert die Fruchtbarkeit der Felder und vermehrt das Vieh. Er segnet Heiraten und schenkt Kinder. In Erfüllung von Gelübden bringen die Gläubigen Kokosnusstücke und Gelbwurzpulver - dar. Im "Zeitalter der Wahrheit" waren dies Goldstücke bzw. Goldstaub, die der König unter den Menschen verteilte. Heute nehmen die Gläubigen die heilkräftige Gabe des Gelbwurzpulvers entgegen und bringen sie ihren Verwandten und Freunden in Städten und Dörfern.
Das Somvati-Fest in Jejuri ist eines der wichtigsten Ereignisse im Jahreszyklus der Feste des Khandoba-Kults. Es findet montags bei Neumond statt. Der Zeitpunkt ist eher ungünstig, weil der Kosmos dann von den negativen Mächten durchsetzt ist. Aber Khandoba ist der Herr über die finsteren Mächte und Geister.
Khandoba ist für die Gläubigen das ganze Jahr über zugänglich, aber der Alltag und die Routine des täglichen Rituals ermüden den Gott, der als König in der Welt herrscht. Das Leben stagniert, wird statisch. Seit alter Zeit geht er daher an diesem Tag auf die Jagd und sucht Erneuerung und Glück in der Wildnis. Somvati ist der Tag, an dem der Gott in seiner Sänfte Tempel und Festung verlässt, um in die Wildnis zu ziehen. Am Ende nimmt er ein Bad im Fluss.
Ca. 15 großformatige Fotografien zeigen die Hingabe der Gläubigen an ihren Gott in einem Rausch von Gelbwurz-Pulver.
Henning Stegmüller
Henning Stegmüller, geboren 1951 in München, absolvierte das Studium der Fotografie an der Staatlichen Fotoschule München sowie anschließend das Studium Film an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Seit 1977 wirkte er als Kameramann, Regisseur, Cutter, Produzent bei mehr als 30 Dokumentarfilmen (hier meist in Personalunion aller Funktionen) sowie Fernsehspielen und Spielfilmen mit. Henning Stegmüller wurde bekannt durch seine ethnographischen Filme zu Indien, Afrika und Lateinamerika. Seit 1996 widmet sich Stegmüller hauptsächlich der Fotografie. Sein Text- und Bildband Bombay – Mumbai, Bilder einer Mega-Stadt (A1-Verlag, München) erhielt 1999 den Goethe Verlagspreis.