Der Maler Georg Baselitz entdeckte 1963 die Grafik als eine neue Ausdrucksform für sich. Anders als der gerade aktuelle, auf eine mechanisierte Massenproduktion zielende Sieb- oder Offsetdruck, wendete sich Baselitz den klassischen Techniken vom ersten Vernis-mou zur Kaltnadelradierung, der Aquatinta, dem Linolschnitt und seit den ersten Holzskulpturen auch dem Holzschnitt zu. Anstatt einer die Originalität des Werkes entwertenden Massenproduktion sind es kleine Editionen. Als leidenschaftliche Sammler von historischen Grafiken von niederländischen Stechern um 1600, über Manieristen, die Schule von Fontainebleau, bis zu den Meister des Clair-obscur-Holzschnittes interessierte er sich für die französischen Tradition der Peintre-Graveurs, die, wie Baudelaire 1862 schrieb, die Radierung als „Verherrlichung der Individualität des Künstlers“ betrachtete und die Grafik als treibendes Entwicklungsmedium der eigenen Kunst definierten. Dabei reichte seine Motivwahl von Ausschnitten aus eigenen Zeichnungen und Gemälden, eigenen und fremden Fotografien bis hin zu alten Postkarten. Wie er in einem Interview von 1985 betont, interessierte ihn an der Grafik: „der extremer Anti-naturalismus, der angewandt wird, (…). Das kann sein die Überziehung, die Überstreckung, die Verknorpelung, das Ornamentale in den Blättern, es kann aber auch sein die Sinnlichkeit, also der Reiz, der durch die Gravur entsteht, so daß man also das inhaltlich Gebundene verlässt (...)“.
Baselitz arbeitete sich Stück für Stück durch die verschiedenen Hoch- und Tiefdrucktechniken und begann schon bald schichtweise verschiedene grafische Techniken zu mischen. Intensiv erforschte er die handwerkliche Seite der grafischen Techniken und die diversen Druckmöglichkeiten. Vor allem ab Mitte der 70er Jahre schien ihm die Grafik fast noch griffiger als die Malerei, um die Auseinandersetzung von Motiv und künstlerischem Mittel voran zu treiben. Wie z. B. die Serie von 4 Linolschnitten „o.T.“ (Landschaften) 1979 zeigt, legt er im 1. Zustand das Motiv mit flächigen Schnitten und breiten Linien an, so dass es alleine vor dem flächigen Hintergrund steht und plastisch in den Raum „drängt“. In den Zuständen 2.-.4. beginnt er dann mit einem feinädrigen Netz von Linien das Motiv „einzuspinnen“ und in der Fläche zu befestigen. So kann es zugleich in seinen breiten hell/dunklen Flächen hervortreten und wieder in das grafisch expressive Geflecht versinken. Wie Siegfried Gohr 1984 schreibt, gelingt es dem Künstler so, dass „die Motive in einer eigentümlichen Schwebe verharren zwischen ihrem Erscheinen und ihrem Verhüllt- oder Verdecktwerden“. 4 Linolschnitte „o.T.“ (Landschaften) bleiben Zustandsdrucke. Sie sind einmalig und führten nicht zu einem Auflagenobjekt. Gerade sie zeigen, dass in den frühen Jahre für Baselitz der Weg das Ziel war: seine Probe- und Zustandsdrucke dienten der intensiven Entwicklung und Ausarbeitung des „Motiv-Mittel-Themas“. Jeder Zustand bietet eine mögliche und gültige Ausformulierung des Themas und ist als solcher einmalig. Häufig wird er weiter überarbeitet oder auch noch zusätzlich übermalt, was seine Einzigartigkeit, die das Druckmedium konterkariert, noch betont. Mit seinen Zustandsdrucken schafft Baselitz „Druckbilder“, die an Dynamik und Intensität bis heute ihresgleichen suchen.
Dr. Cornelia Oßwald-Hoffmann, April 2024