So wie wir ein Gegenüber brauchen, um ein Bewusstsein für unser Ich zu entwickeln, lassen sich
Grenzen am besten austesten, indem sich etwas oder jemand daran reibt, wie bei einem Juckreiz,
der uns ein Bewusstsein für die Haut vermittelt, in der wir stecken.
Carlo McCormick
Anton Henning erschafft in seinen Bildern erlebbare Räume. Verschlungene Linien gehen in surreale
Lebewesen über, verschwimmen mit skulpturalen Portraits und zur dekorativen Kontur auslaufenden
Aktzeichnungen. Leinwände, Wandfarbe, Licht oder Möbelstücke: Das Universum Henning kennt keine
Grenzen und zieht den Besucher direkt in seinen Bann aus kreativen Reibungen und Irritationen.
Magrittes Wölkchen, Picassos kubistische Formen oder Duchamps Maschinen werden in Anton Hennings
Bilderwelt unlösbar miteinander verflochten. Er zitiert seine Vorgänger jedoch nicht einfach als
nostalgische Wiederholung des bereits Dagewesenen. Vielmehr werden sie in ihre Einzelteile zerlegt,
ganz unverblümt vermischt und auf Henning´sche Weise nicht ohne Ironie wieder zusammengesetzt. In
den Berührungen legen sie neue Zusammenhänge offen, eine Ähnlichkeit, ein Unterschied oder eine
überraschende Erkenntnis. Auch mit den Werktiteln stiftet Henning vergnügliche Verwirrung. Auf der
Leinwand winden sich Trichter und Röhren. Sie erinnern eher an eine physikalische Versuchsanrichtung,
als an ein Portrait, wie der Künstler das Werk benannt hat. Doch durch diese klassische
Genrebezeichnung werden die Striche und Löcher plötzlich zu zähnefletschenden Mäulern und starrenden
Augen. Die abstrakte Linie wird durch die gesetzte Kategorisierung zur animierten Form. Doch jede
erkannte Lebendigkeit scheint sich vor dem nächsten Stilleben wieder in ihrer versteinerten Fragmentierung
aufzulösen, denn zeigt es nicht ganz ähnliche Strukturen wie das Portrait? Was sehe ich
und wie nehme ich (Kunst) wahr? Nicht nur der Umgang mit Kunst und Geschichte wird hier reflektiert,
sondern das Sehen selbst zum Thema gemacht.
Durch das mit Gel gefüllte Kissen einer der skulpturalen Bänke ist eine Collage aus gezeichneten
Frauenakten sichtbar, deren Umsetzungen den Realismus Courbets und die Frivolität eines Pin-ups
vereinen. Klassik und Kitsch kommen hier unter dem gewichtigen Thema des Sündenfalls zusammen,
während Eva selbst ins Schmunzeln gerät und sich den Apfel von einem „Hennling“ pflückt (die dreischlaufige
Form, die Henning von Beginn an als unauflösbares Element des Abstrakt-Absurden dient).
Über der Vielschichtigkeit vergisst man fast: Es ist und bleibt ein Sitzmöbel – unklar bleibt
jedoch, ob man sich nun setzen oder gebührenden Abstand halten soll. Hier spitzt sich die Frage zu,
mit der Henning uns stets konfrontiert: Wo ist die Differenz zwischen Leben und Kunst, Realität und
Repräsentation? Hinter jeder Ecke finden sich in Hennings Werk neue Stolpersteine, die zum Verweilen
und Selbstdenken einladen. Im Idealfall folgt für den Künstler auf diese Fragen wohl ein lautes
Streitgespräch, das die klinischen Hallen des White Cubes wieder mit der Energie füllt, die seinen
Bildern innewohnt.
Die Galerie Bob van Orsouw freut sich, bereits die vierte Einzelausstellung mit dem 1965 in Berlin
geborenen Künstler Anton Henning zu präsentieren.
Sein umfassendes Werk war bereits in Einzelausstellungen unter anderem zu sehen im Magasin 3,
Stockholm (2012); Mamco, Genf (2012); Georg-Kolbe Museum, Berlin (2009); Haus am Waldsee, Berlin
(2009); Kunsthalle Mannheim (2009); Gemeente Museum, Den Haag (2008); S.M.A.K. Stedelijk Museum
voor Actuele Kunst, Gent (2007); MARTa Herford, Herford (2005), Museum für Moderne Kunst, Frankfurt
(2005) und dem Kunstmuseum Luzern (2003).
Nicht unerwähnt bleiben darf auch die Teilnahme an internationalen Gruppenausstellungen wie in «Bad
Thoughts, Collection Martijn and Jeannette Sanders», Stedelijk Museum, Amsterdam (2014); «Painting
Forever! Keilrahmen», KW Institute for Contemporary Art, Berlin (2013); «The collection. German art
from Kiefer to Henning», Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam (2012); «If not in this period of
time – Contemporary German Painting», Museu de Arte de Sao Paulo, Sao Paulo (2010); «Berlin Transfer
- Junge Kunst der Berlinischen Galerie und der GASAG», Berlinische Galerie, Berlin (2010) oder
«Interieur/Exterieur: Wohnen in der Kunst», Kunstmuseum Wolfsburg (2008).
Anton Hennings Arbeiten sind in zahlreichen öffentlichen wie privaten Sammlungen vertreten.