curated by_ GABRIELA RANGEL
ARCHIVAL INFRAWORLDS
NASCIMENTO / LOVERA (gegründet 1996 in Caracas)
ERICK MEYENBERG (*1980, lebt in Mexico City)
Ein Archiv zu errichten, erfordert zunächst einmal Platz, die Entwicklung eines räumlichen Bewusstseins, wie auch ein örtliches Commitment mit dem Ziel, Wissen aus dem privaten Bereich einer Sammlung in ein öffentliches Archiv zu überführen. Viele bedeutende Denkerinnen und Denker haben über die pathologisch selbstzerstörerischen Tendenzen des Archivs nachgedacht, eine interne Logik gefordert, die eine Auslöschung oder gar Vernichtung verhindern könnte. Archive sind aber auch externen Kräften ausgesetzt, die das Lokalisieren, Sammeln und Erhalten zusätzlich erschweren. Wichtige Teile der Archivproduktion sind immer noch über weite Ruinenlandschaften verteilt, ihre parabolische Existenz stets affirmierend, wo Unbeständigkeit mit systematischer Verwüstung einhergeht. Entsprechend systematisch zur Hilfe kommen typisch archäologische Methoden, um verschiedene einzigartige Prozesse anzubieten und Spuren der Vergangenheit zu sammeln, die sonst verschwunden wären oder dem Krieg beziehungsweise den gleichermaßen zerstörerischen Effekten der Indifferenz zum Opfer gefallen wären. Soviel zur ambivalenten Natur des Archivs, die noch offensichtlicher wird, wenn Archäologie und Geschichte programmatische Narrative vom Leben und Sterben oder Bedeutung und Dekadenz zum Besten geben.
Die Ausstellung setzt in erster Linie bei der Beobachtung diskreter, fast schon geisterhafter Schritte an, wie sie von Kunstschaffenden wie Nascimento/Lovera und Erick Meyenberg unternommen wurden, um archivarische Entdeckungen der Unterwelt, der Biopolitik und des grausamen Optimismus ans Tageslicht zu befördern.
Nascimento/Lovera ist ein Duo aus Caracas, das seit 1996 zusammenarbeitet und seine künstlerische Praxis als „Strategien der Intervention im sozialen Raum“ umschreibt. Nascimento/Lovera verorten sich im Zentrum des archivarischen Übels und streben mit ihrem Archivo Nacional nach einer Genesung des kollektiven und des individuellen Gedächtnisses. Ihre aktuelle Reihe setzt sich mit der Wiederbelebung eines Archivs für Archive auseinander, bestehend aus einem Bilder- und Dokumentenatlas über öffentliche Denkmäler, Museumssammlungen, Bibliotheken, populäre und revolutionäre Melodien und viele andere Überreste unseres Kulturerbes. Dieses unergründliche materielle oder immaterielle Vermächtnis steht in einem komplexen Verhältnis zur kurzsichtigen Beziehung der Menschen zu einem erweiterten Nationen-begriff, der nach der sogenannten Chavista-Ära der letzten Jahrzehnte nun völlig erschöpft ist. 1998 wurde der charismatische, populistische Fallschirmjäger Hugo Chavez in Venezuela zum Präsidenten gewählt, um ein neues politisches Kapitel für das an Ölreserven reiche Land aufzuschlagen, das während der Nachkriegszeit zu einem der wohlhabendsten Länder Südamerikas gehörte – ein großer Teil der Bevölkerung wohnte dennoch in Elendsvierteln. Nach zwei Jahrzehnten Chavista- Regierung und dem unerwarteten Tod von Chavez 2013 nehmen es Nascimento/Lovera mit dem tief gespaltenen Land zwischen autoritärem Staat und entrechteten Bürgerinnen und Bürgern eines nekropolitischen Regimes auf.
Auch Erick Meyenberg arbeitet sich an der Geschichte und der Archäologie ab, wobei er mittels interdisziplinärer Methoden verschiedene Bedeutungsebenen gleichsam freilegt wie verschüttet. Aspirantes (Aspiranten als „Kandidaten” aber auch als „Atmer”, lat. aspiratio) ist eine Sechskanal-Videoinstallation, die sich damit auseinandersetzt, wie die archivarische Krankheit selbst unter scheinbar normalen demokratischen Bedingungen zur Sisyphusarbeit wird. Die Arbeit zeigt eine Gruppe von 230 jungen Performerinnen und Performern, die gemeinsam in Teotihuacan – einer der bedeutendsten prähistorischen Ruinenstädten im heutigen Mexiko - mit Blick auf die Mondpyramide in einer Art choreographischen Routine atmen. Währenddessen dokumentiert eine auf- und abschwebende Drohne das Ereignis so, als ob sie selbst atmen würde. Der symbolisch aufgeladene Ort an dem Meyenbergs Performance stattfand – wortwörtlich auf der „Straße der Toten” – stellt einen rituellen Zusammenhang zu einem latenten Problem in Mexiko dar, nämlich dem gegenwärtigen massiven Verschwinden von Menschen. Vorfälle dieser Art, die zumeist auch noch unbestraft bleiben, verweisen auf die kriminelle Problematik im Allgemeinen, neben den kontinuierlichen Gewaltakten zwischen Polizei, Milizen und Drogenkartellen. Das Verschwinden dieser Körper ist das Ergebnis einer wiederkehrenden Geste, die Opfer ihrer Bürgerrechte zu berauben. Die mexikanische Demokratie und ihre post-revolutionären nationalen Denkmäler begünstigen oftmals die kollektive Neigung zur gegenwärtigen repressiven Toleranz.
Meyenbergs Performance stellt an einem historisch aufgeladenen Ort ein reguliertes, interagierendes Narrativ zur Schau, das die Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen bindet und befreit. Die Atemübung der Menge, die den im Takt der Drohnen geschnittenen Soundtrack noch verstärkt, bricht mit dem Narrativ des Nationalstaats als Einheit. Die Poesie Meyenbergs Choreographie verdeutlicht, dass Freiheit keine angeborene Fähigkeit ist, sondern eine Übung, die konzertiert stattfinden muss.
Gabriela Rangel (Venezuela / USA) ist Direktorin für bildende Kunst und Chefkuratorin an der Americas Society.