Unberechenbarkeit der Schöpfung
Emil Nolde findet im Abbild des Meeres eine Metapher für Seelenzustände
Die unendliche Weite der See verkörpert mehr als jede andere Landschaft die Ursprünglichkeit und Unberechenbarkeit der Schöpfung. „Das Meer als Metapher für Seelenzustände und als Spiegel der Unendlichkeit des Himmels stellte insbesondere für die Expressionisten eine existentielle malerische Aufgabe dar, die es künstlerisch zu erfassen galt“, sagt Raimund Thomas. Gerade die Gruppe der „Herbstmeer“-Bilder, zu denen das vorliegende Gemälde gehört, sind gar als konkreter Ausdruck von Emil Noldes eigenem aufgewühlten Seelenzustand nach seinem Bruch mit der Sezession im Jahr 1909 zu sehen. „Noldes malerisches Ziel ist es nicht, den Anblick, die körperliche Erfahrung des Meeres ins Bild zu bannen, sondern durch die Evokation dieser Empfindungen eine Metapher für Seelenzustände und für das Wesen dieser Kräfte zu schaffen“, so Thomas, „wenngleich die Voraussetzungslosigkeit und Eigenständigkeit von Noldes Seestücken immer wieder betont wird, so steht er mit dieser Motivwahl natürlich in einer großen Tradition.“
Erich Heckel entdeckt in Italien das Licht des Südens
Die doppelseitig bemalte Leinwand Ziegelei/Häuser bei Rom hat Erich Heckel in den Jahren 1908/09 geschaffen. Die „Ziegelei“ entsteht in dem kleinen Fischerdorf Dangast, in das sich die Mitglieder der „Brücke“ einige Sommer lang zurückziehen. Für Heckel sind diese Nordseeaufenthalte von größter künstlerischer Bedeutung. Farbgebung, Komposition und Duktus ändern sich: aus der cremigen und pastosen Pinselführung entwickelt sich zusehends ein befreiterer Duktus, die Flächen werden großzügiger angelegt, der Farbauftrag leichter und gleichzeitig kontrastreicher.
Auf der anderen Seite der Leinwand findet sich das Gemälde Häuser bei Rom, das während Heckels erster Italienreise entsteht. In seinen Briefen an die Kunsthistorikerin und „Brücke“-Förderin Rosa Schapire schickt er Skizzen, denen er eine Farbbeschreibung beifügt: „(…) aber ich möchte die Farbe angeben, die Hauptsache…Häuser und Äcker gelb, Himmel rot und blau dunkel, Grün sehr intensiv“. Er führt seinen lockeren Malstil mit verdünnten Ölfarben, die die Leinwand durchschimmern lassen, fort, sein Pinselstrich folgt noch entschlossener der Linie, die im Nachhinein keinerlei Änderung mehr gestattet. „Obwohl Heckel die Ziegelei mit roter Farbe übermalt hat – sie wurde erst 1999 freigelegt – ist aus heutiger Sicht unumstritten, dass beide Seiten die verschiedenen Schaffensphasen und Heckels künstlerische Entwicklung eindrucksvoll dokumentieren“, sagt Raimund Thomas.
Andy Warhol revolutioniert das Sujet des Blumenstilllebens
Die Blume in der Kunst ist niemals nur eine Blume. Sie weist stets über sich hinaus und generiert eine Fülle von Bedeutungen, die untrennbar mit genuiner künstlerischer Innovation und Revolution einhergehen. Bis zur Renaissance sind Blumen vor allem Träger religiöser Symbole oder Allegorien, im Barock verweisen sie auf das Vergehen, auf den Tod und die Endlichkeit des Seins: die Vanitas. Für die Impressionisten wird die Blume zur idealen Projektionsfläche für den Ausdruck der unmittelbaren Wahrnehmung des Künstlers. Und seit Warhol mit seinen Flower-Paintings ein Comeback des Sujets einleitet, ist die Blume als Motiv im Werk vieler großer Künstlerpersönlichkeiten nicht mehr wegzudenken. Warhol beginnt mit der Serie der Flowers 1964. „Inhaltlich greift er die barocke Blumenmetaphorik wieder auf und verknüpft Schönheit und Verfall, Leben und Tod“, so Silke Thomas, „das farbenfrohe Erscheinungsbild zersetzt sich vor dem dunklen, düsteren Hintergrund.“ Im Zuge von Warhols Bearbeitung des Themas führt er die Siebdrucktechnik ein, um vielfältige Bilder der gleichen Blume zu fertigen. Die Betonung von Prozess und Wiederholung sind die Charakteristika seiner künstlerischen Strategie.
Die Erkenntnis, die künstlerische Gestaltung von der Verpflichtung zum Gestisch-Manuellen vollkommen zu lösen und durch technische Hilfsmittel zu ersetzen, stellt herkömmliche Vorstellungen von der Authentizität des Kunstwerks und der Rolle des Autors in Frage. „Die romantische Idee von der Künstlerpersönlichkeit als Genie wird von Warhol durch den Prozess der Entindividualisierung vollkommen negiert“, sagt Silke Thomas.
„Es ist immer wieder eine große Freude und spannende Herausforderung für uns“, so Raimund Thomas, „bei jedem einzelnen dieser hochwertigen Exponate aus unseren beiden Meisterwerkekatalogen der Galerie Thomas, Expressionismus und Klassische Moderne, und der Galerie Thomas Modern, Zeitgenössische Kunst, in die Tiefe zu gehen, genauer hinzusehen und dabei in die Zeit und den Kosmos des Künstlers einzutauchen.“
Auf Wunsch senden wir Ihnen auch gerne Belegexemplare unserer Meisterwerkekataloge per Post zu. Bitte wenden Sie sich bitte an Caroline Neider, Tel. +49 89 29 000 820 / [email protected]