In Thailand gibt es einen alten Brauch. Jungen im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren gehen für einige Wochen oder Monate in den Tempel. Vorher rasiert man ihnen die Köpfe und lässt ihr Haar in ein Lotosblatt fallen. Blumen krönen jetzt ihr Haupt, ihre Kleidung ist bunt und festlich und ihnen widerfährt was sonst nur Herrschern zusteht: Drei Tage lang berühren ihre Füße nicht mehr den Boden, sie werden getragen. In ihrer dritten Soloausstellung in der Galerie Voss präsentiert die Berliner Fotokünstlerin Iwajla Klinke neue Werke aus Indien, Mexiko und Thailand, die das Serielle ihrer Arbeitsweise deutlich machen. Der Titel „Oneironauts“, erinnert lautmalerisch an die antiken Argonauten und spielt auf das Motiv des Reisens zwischen inneren und äußeren Welten an, das allen Werken Klinkes innewohnt. Übersetzen ließe er sich mit Klarträumer – Menschen mit der Gabe des lucid dreaming: Ihnen ist bewusst, dass sie träumen, sie können ihre Träume steuern und sich gar in den Träumen anderer bewegen. Aus der thailändischen Reihe „Oneironauts“, nach der die Schau benannt ist, sind zwei Arbeiten zu sehen. Die feminin geschminkten Jungen symbolisieren ein größeres Ganzes, das ihre individuelle Persönlichkeit berührt und doch weit überschreitet. Die Farbenpracht ihrer Verkleidung feiert die Dekadenz, eine Art letztes Aufbäumen vor der Kargheit des Klosters, und ist zugleich ein Vorgriff auf die Sinnlichkeit, die diese Jungen später einmal, nach dem Kloster, als Männer erleben können. Eine weitere Serie, „Huastecan Cherubim“, zeigt drei Kinder vor einem Karnevalsumzug, Klinke hat sie Anfang dieses Jahres in Mexiko fotografiert. Am ganzen Körper geschminkt, halten sie wie Wächter lange Stäbe in der Hand – christliche Traditionen sind hier ebenso präsent wie der traditionelle Regenzauber und die Jugendkultur der Straße. Die beiden indischen Jungen („Therian Infantes“) verwandeln sich am erkennbarsten. Ihre vollständige Bemalung als Raubkatze drückt ihre Mannwerdung aus, als würden sie selbst zu etwas Wildem, das sie zugleich bezwingen und bewahren. Auf den Aufnahmen haben sie ihre Masken abgenommen, was ihr Doppelwesen als Mensch und ritualisiertes Tier betont. Die beiden Indienbilder gehören zu Klinkes großem Tiger-Projekt, bei dem sie dieser Form des Initiationsritus in verschiedenen Kulturen nachgeht und so seine universelle Dimension unterstreicht. Mit dem Polyptychon „Boy's Lenten Veil“ greift sie die Ikonografie mittelalterlicher Flügelaltäre und Passionsteppiche auf, die sie in einen mexikanischen Superhelden-Comic aus profanen und sakralen Elementen übersetzt: Das populäre Wrestling lucha libre fließt hier mit ein, ebenso wie Streetdance und österliche Prozessionen. Klinkes Bilder erinnern durch den tiefen Ernst und die stolze Haltung der Porträtierten an die Studiofotografie des späten 19. Jahrhunderts oder die Malerei des Goldenen Zeitalters. Die Künstlerin sucht und findet ihre Motive rund um den Globus – ein schwarzes Tuch und eine Kamera, das ist alles, was sie auf ihren Reisen braucht. Es ist das Alter kurz vor der Pubertät, das sie besonders fasziniert, das Zurücklassen der Kindheit, die bevorstehende Verwandlung. Bevor sich Iwajla Klinke ganz der künstlerischen Fotografie zuwandte, arbeitete sie einige Zeit beim Fernsehen und drehte Dokumentationen für 3sat und Arte. Diese Jahre hätten in ihr eine große Sehnsucht nach Stille hinterlassen, nach einem Ausdruck ohne Worte. Die Kinder und Jugendlichen auf ihren Aufnahmen, erfassen intuitiv die Heiligkeit des Augenblicks. So kann es auch dem Betrachter von Iwajla Klinkes Kunst ergehen. Text: Simone Sondermann