Die Tänzerin, Choreographin und Tanzpädagogin Mary Wigman (Hannover 1886 – 1973 Berlin), Laban-Schülerin, gründete 1920 in Dresden eine eigene Schule, in der sie einen neuen Stil, den "Absoluten Tanz" schuf. Dies ist ein Tanz ohne Handlung, in dem also keine Geschichte erzählt wird, in dem vielmehr rhythmisch seelische Zustände getanzt werden, zumeist düstere Visionen, Gleichnisse und Traumgesichte. Als unmittelbarer Ausdruck des Menschseins bis zur Befreiung selbst von Musik und Rhythmus gerät er schliesslich sogar ohne Bezug auf die Zeit zum reinen bewegten Bild im Raum.
Bereits diese den Lexika zu entnehmenden Begriffe zur Tanzkunst von Mary Wigman zeigen die Nähe zu Kirchners künstlerischen Gedanken und Methoden, etwa "unmittelbarer Ausdruck" oder "reines bewegtes Bild im Raum". Der erste Begriff umfasst praktisch die gesamte Theorie der "Brücke"-Künstler in ihrem Programm von 1906 und der zweite die 1925 einsetzenden Theorien Kirchners zu seinem "Neuen Stil". Daher war es kaum verwunderlich, dass der Tanz-, Tingel-Tangel- und Varieté-begeisterte Kirchner während seines Aufenthaltes in Dresden im Januar/Februar 1926 während der dortigen Proben von Mary Wigman eine grosse Anzahl von Zeichnungen schuf, aus denen später in Davos diverse Holzschnitte und das grosse Gemälde “Totentanz der Mary Wigman“ (1926/1928, Gordon 839) entstanden. Vermittelt hatte dieses Zusammentreffen Will Grohmann, der 1925/26 zwei wesentliche Bücher über Kirchner veröffentlicht hatte und der mit Mary Wigman befreundet war.
Kirchner notierte am 30. 1. 1926 in sein Tagebuch: "Heute erster grosser Eindruck bei Mary Wigman. Ich empfinde das Parallele, wie es sich in den Tänzen ausdrückt in den Bewegungen der Massen, die die Einzelbewegung verstärken durch Zahl. Es ist unendlich anregend und reizvoll, diese Körperbewegungen zu zeichnen. Ich werde davon grosse Bilder malen. Ja, das was wir geahnt haben, ist doch Wirklichkeit geworden. Die neue Kunst ist da. M. W. benutzt vieles aus den modernen Bildern unbewusst, und das Schaffen eines modernen Schönheitsbegriffes ist ebenso in ihren Tänzen am Werke wie in meinen Bildern." Der "Totentanz" von Mary Wigman aus dem Jahre 1926, dessen Proben Kirchner beiwohnte, basierte auf einigen Vorgängern, hatte aber als Besonderheit, dass er mit Masken getanzt wurde. Vor der Reihe der Toten erscheint rechts grün eine tierhafte Maskengestalt mit ausgeprägten Brüsten jedoch bärtiger Maske. Die von Mary Wigman getanzte Gegenfigur erscheint links in einem gestreiften Gewand in der Hocke mit erhobenen Armen und recht menschlichen Zügen, als gehöre sie noch nicht vollständig in das Reich der Toten. Kirchner rhythmisiert die Reihe der Toten streng parallel in einer hinteren Ebene als Konstanten, die sich formal im Tanzboden unten vorn in umgekehrter Richtung ebenso streng parallel fortsetzen. In einer Ebene davor erscheinen rechts und links als die Variablen die menschliche und die tierisch-höllische Gestalt als die sich bekämpfenden Grundprinzipien. Für die hintere Ebene verwendet Kirchner einen kräftigen aber eher harmonischen Rot-Blau-Klang, für die beiden Gestalten der vorderen Ebene ein gefiedertes Grün über nacktem Körper für die tierisch-höllische Figur und ein expressives aber würdevolles schwarzgelb gestreiftes Gewand für die menschliche Gestalt.
Von ihren Anfängen in Dresden an zählte der Tanz zu den zentralen Themenkreisen der „Brücke“-Künstler und insbesondere Kirchners. Erich Heckels damalige Freundin und spätere Frau Siddi war Tänzerin. Kirchners neue Lebensgefährtin 1911 in Berlin, Erna, war Tänzerin. Menschen in Bewegung waren für ihn wesentliche Quelle der Inspiration. Die vollendeten Bewegungsbilder von Mary Wigman und ihrer Tanzgruppe 1926 in Dresden und 1929 die der Tänzerin Gret Palucca in Davos führten zu Kirchners intensivsten Beschäftigung mit dem Tanz und zu Bildern höchster, kraftvollster Vollendung. Für kein anders Motiv schuf Kirchner derartig zahlreiche Skizzen und grössere Zeichnung als für Mary Wigmans „Totentanz“.Einen ebenso hohen Stellenwert nimmt der „Totentanz“, den Mary Wigman 1926 im Taschenbergpalais und im Kleinen Foyer der Königlichen Residenz in Dresden mit ihrer Gruppe einstudierte, im Gesamtwerk von Mary Wigman ein. Tod war in ihrem Werk eine immer wieder aufscheinende Thematik, dieser „Totentanz II“ deren definitive Form. Und sie berichtet, als „stummer Partner“, „immer spürbar und immer inspirierend“ hätte bei diesen Proben im Foyer der Maler Ernst Ludwig Kirchner dabei gesessen, hätte gezeichnet, aquarelliert, Skizzen und Studien entworfen. Überlagert und durchdrungen war diese Szenerie ständig von der expressionistischen Musik Will Goetzes. Ein Crossover der Künste, wie es nur dem Expressionismus möglich wurde, da sich dessen Intentionen in allen Künsten manifestierten, ein Alleinstellungsmerkmal der Kunst im deutschsprachigen Raum vor und nach dem Ersten Weltkrieg, das hier in Dresden 1926 einen seiner fruchtbarsten Augenblicke erlebte, einen Kairos par excellence.Kirchners „Totentanz der Mary Wigman“ ist durchaus expressionistisches Gemälde einer ebenfalls expressionistischen Tanzszene noch in Kirchners Davoser "Teppichstil", in dem die Farbflächen wie in eine teppichartige Oberfläche verwoben sind. In den dunkel- und hellblauen Kontour- und Luftschatten der Gestalten und ihrer Stilisierung deutet sich der "Neue Stil" Kirchners aber bereits an. Die expressionistische Übersteigerung von Form, Farbe und Gebärde findet hier ihr Motiv und ihre Motivation im Ausdruckstanz, der sie jedoch zugleich rhythmisiert und stilisiert, eine Komposition, welche die Peripetie im Drama des Werkes von Kirchner markiert.
Wolfgang Henze