Uwe Wittwer (*1954, lebt und arbeitet in Zürich) ist mit vielen Ausstellungen im In- und Ausland
hervorgetreten. Für seine dritte Einzelausstellung bei Lullin + Ferrari zeigt er die vielfältigen Ebenen
seines umfangreichen Werks.
Der Ausstellungstitel Erlkönig – Spiegel weist dem Interpretationsraum eine Richtung: Erlkönig lässt
an die gleichnamige Ballade von Johann Wolfgang von Goethe von 1782 und an romantische
Lieder von Schubert denken. Der Gedankenstrich vor dem Wort „Spiegel“ drückt einen Moment
des Innehaltens und der konzentrierten Reflektion aus. Uwe Wittwer entfaltet in der Ausstellung mit
stupender Sicherheit assoziative Zusammenhänge und Inhalte. Dabei behält er immer den
Gesamteindruck der Präsentation seiner Bilder im Blick. Die Ausstellung stellt eine
choreographische und dramaturgische Höchstleistung dar, in dem sich verschiedene
Themenkreise zu einem grossen Ganzen fügen.
Den Auftakt zur Ausstellung bildet das schwarzweisse Triptychon Robert, das einen nächtlichen
Innenraum wiedergibt. Dargestellt ist eine Szene des Films They Shoot Horses, Don’t They? von
Sydney Pollack aus dem Jahr 1969. Die Handlung des Films dreht sich um einen mörderischen
Tanzwettbewerb, in dem die Hauptdarstellerin Gloria Beatty (gespielt von Jane Fonda) aus
Erschöpfung wünscht, den Gnadentod sterben zu dürfen. Im rechten Bildfeld steht Robert
Syverton (gespielt von Michael Sarrazin), während einer kurzen Pause im Tanzmarathon. Er wird
seiner Tanzpartnerin Gloria Beatty den Gnadenschuss versetzen. Im linken Bildfeld hielt Wittwer in
Vorwegnahme der kommenden Handlung ein Einschussloch fest. Zur linken des stimmungsvollen
Innenraums hängt das Diptychon Gloria, das einerseits die Schauspielerin Jane Fonda in einer
Rauchpause während des Tanzwettbewerbs, andererseits den Beginn des Romans von Horace
McCoy, auf dem der Film basiert, wiedergibt. Im Film spricht Robert Syverton diese Passage in der
dramatischen Schlussszene. Besonders eindrucksvoll in der Dramaturgie des ersten Raumes ist
die durch ein Einschussloch suggerierte Doppelung des Fensterraums. Das Überschreiten der
Schwelle der Eingangstür ist sowohl Eingang in die Galerie aber auch Eintritt in den
Handlungsraum der Ausstellung. Eines der Grundthemen der Schau die Pferdedarstellung, klingt
im ersten Raum nur im übertragenen Sinne an – Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss.
In den Hauptraum führt das grossformatige Bild einer Karosse mit Schutztuch. Auf dem Wagen
drängen sich Überlebende des Zweiten Weltkriegs in Frankfurt am Main. Virtuos übersetzte Wittwer
mit malerischen Mitteln eine kleine schwarzweisse Fotografie in ein grosses Leinwandbild. Die
Gesichter der Menschen auf der Karosse sind nicht erkennbar, aber in ihren Haltungen lassen sich
ihre unterschiedlichen Charaktere erahnen. Der Wagen stellt einen Menschenreigen dar, der von
zwei stoischen Pferden gezogen wird. Aufnahmen von Überlebenden auf Karossen begegnet man
relativ häufig. Es scheint als hätte es sich beim Fotografieren dieser Szenen, um eine beinahe
zwanghafte Handlung gehandelt, das Überleben zu fassen.
Zur linken der Karosse mit Schutztuch dehnt sich in Übergrösse eine Schallplatte. Dabei handelt es
sich um das legendäre Album ”Horses” von Patti Smith, welches am 10. November 1975
erschienen ist. (Nicht wie irrtümlich auf Wikipedia festgehalten am 13. Dezember 1975, wir danken
Veit Stauffer für die fundierte Recherche). Die schwarzen Rillen der Schallplatte treten besonders
hervor und lassen eine Nostalgie für Vinyl und die Mitte der 1970er Jahre aufscheinen. Die runde
Form lässt an die Target-Bilder von Jasper Johns denken, ein subtiler Hinweis auf die Popart.
Rechts der Karosse mit Schutztuch formieren sich ein Frauenporträt auf Leinwand und zwei
Aquarelle mit gespiegelten Pferdedarstellungen und dem Schriftzug Oh Anmer zu einer rätselhaften
Dreiergruppe. Bei der Frau handelt es sich um Emily Davison, einer bekannten Suffragette, die
1913 während des Höhepunktes des Epsom Derby aus Protest in die Gruppe galoppierender
Pferde hineinlief. Sie wollte, so besagt es die Legende, dem königlichen Rennpferd Anmer eine
Schärpe umbinden und stellte sich ihm in den Weg. Sie überlebte den Zusammenprall nicht. Somit
wurde sie mit einem Schlag zur berühmtesten Aktivistin für die Frauenrechte und zur Märtyrerin.
Die Geschichte ist rätselhaft – suchte Emily Davison den Freitod? „Was Wittwer an dieser
Geschichte angezogen hat, ist gerade der Umstand, dass über den Vorfall keine Klarheit herrscht“,
stellt Philipp Meier in seinem ausgezeichneten Essay über Uwe Wittwer in der Neuen Zürcher
Zeitung fest. (NZZ, Samstag, 11. März 2017, Seite 50).
Gegenüber von Emily Davison und dem gespiegelten Pferd Anmer hängt eine grossartige Gruppe
von 9 Variationen des Bildes Der Heuwagen von John Constable (The Hay Wain,1820-21, National
Gallery, London). Wittwer offenbart in diesen Aquarellen seine ganze Könnerschaft im Medium, das
von Constable selber sehr geschätzt wurde. In diesen Arbeiten wird Wittwers Affinität für die
romantische englische Kunst erkennbar. Wittwer setzt Akzente, fokussiert auf Details, überblendet
Bildbereiche und fügt unter anderem Texte aus privaten Briefen ein. Die Serie von Aquarellen ist
mit einer musikalischen Suite vergleichbar, in der immer neue Ebenen hörbar, beziehungsweise
sichtbar werden.
An die Serie der 9 Aquarelle schliesst sich das Reiterbild Erlkönig nach Baldung Grien an. Wittwer
übertrug die romantische Figur des Erlkönigs in die Renaissancezeit, indem er sich bei der
Bildgestaltung an das Bild Ritter, Mädchen und Tod von Hans Baldung Grien, heute im Louvre,
Paris, anlehnt. Das Motiv des rettenden Reiters kehrt im hinteren Galerieraum in doppelter Form
wieder. In Erlkönig – Spiegel vereint Wittwer zwei Variationen des Themas aus unterschiedlichen
Entstehungszeiten in einem Rahmen. Das Aquarell zur linken entstand 1995 in Paris, das rechts
2017 in Zürich: Hier wird die Reflektion über ein Thema über einen Zeitraum von mehr als 20
Jahren augenfällig. Die linke Wand im hinteren Raum ist mit einer mit Bleistift festgehaltenen
Tapete mit dem Muster einer Rastszene auf einer Fuchsjagd bestückt. Bei der Vorlage der
Schablonenzeichnung handelt es sich um ein grossformatiges Bild von John Ferneley von 1846,
das sich heute im Yale Center for British Art, in New Haven befindet. Auf diese fingierte Tapete
hängte Wittwer sieben kleinformatige Bilder, die alle Pferde in unterschiedlichen Formen
wiedergeben. Ein negativ dargestelltes Schaukelpferd ist auszumachen, ein hängendes, sich
spiegelndes Pferd, Lastpferde im Krieg und eine einsames Pferd in einer Ruinenlandschaft. Zwei
Bilder von kleinen Pferdeskulpturen aus Keramik vervollständigen das Ensemble. Diese Figurinen
sind ein bürgerliches Symbol und wurden aus Allach-Porzellan gefertigt. Und hier eröffnet sich eine
makabre Ebene der Beschaulichkeit, da Himmler im Konzentrationslager Dachau die Allach-
Porzellanmanufaktur aufgebaut hatte, in der Häftlinge Zwangsarbeit verrichten mussten und die
Figurinen teilweise Nationalsozialistische Soldaten und deren Pferde wiedergaben. Gegenüber
dieser Gruppe hängt ein grosses Aquarell, das gesuchte, auf dem Blatt geometrisch verteilte
Reiterfigurinen der Nymphenburger-Porzellanmanufaktur wiedergibt.
Wittwer ist natürlich nicht ein Pferdemaler, sondern die Pferde sind im facettenreicher Anlass zur
Malerei. Er erwähnt ein wichtiges Buch von Ulrich Raulff, Das letzte Jahrhundert der Pferde:
Geschichte einer Trennung, erschienen 2015, das ihn sehr gefesselt hat. Es gab einige berühmte
Pferdemaler, zum Beispiel Théodore Gericault und George Stubbs, die die menschliche
Komponente der Pferde herausgearbeitet haben.
In der Ausstellung umkreist Wittwer verschiedene Themen und spannt Assoziationsfäden. Er
entfaltet ein Panorama von Eindrücken und Verweisen, die das Publikum in der vertieften
Betrachtung nachvollziehen kann. In den Arbeiten finden sich Verweise auf frühere Werkgruppen
und es wird ersichtlich, dass Wittwer an einem grossen, schlüssigen Gesamtwerk tätig ist.
Die Eröffnung findet in Anwesenheit des Künstlers am Samstag, 6. Mai 2017 von 14 bis 18 Uhr statt.
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Uwe Wittwer (*1954, lives and works in Zurich) has become prominent with many solo exhibitions in
Switzerland and abroad. For his third solo exhibition at Lullin + Ferrari he unfolds the many layers of
his extensive oeuvre.
The title of the exhibition Erlking – Mirror directs the interpretation into a certain area of thought:
Erlking alludes to the ballad of the same name by Johann Wolfgang von Goethe from 1782 and to
romantic songs by Schubert. The dash before the word “Mirror” expresses the idea to pause for a
moment and of a concentrated reflection. Uwe Wittwer develops in his exhibitions with stupendous
certitude associative connections and subject matters. By doing this he always keeps the overall
impression of the single images in mind. The exhibition is a tour de force in choreographic and
dramaturgical matters, merging the different subjects to a coherent and elegant exhibition.
The black-and-white triptych Robert starts the exhibition. It shows a nocturnal interior and
represents a scene from the movie They Shoot Horses, Don’t They? by Sydney Pollack from 1969.
The story line of the film circles around a murderous dancing contest, in which the main actress
Gloria Beatty (played by Jane Fonda) desires to be shot to death because of exhaustion. In the right
panel stands Robert Syverton (played Michael Sarrazin) during a short break in the dance marathon.
He will relieve his dance partner Gloria Beatty by shooting her. In the left panel Wittwer depicted, in
anticipation of the things to come, a bullet hole. To the left of the atmospheric interior hangs the
diptych Gloria, showing on one side the actress Jane Fonda in a smoking break during the dancing
contest and on the other side the beginning of the novel by Horace McCoy, on which the film is
based. Robert Syverton speaks this passage in the dramatic finale of the movie. Particularly
remarkable in the dramaturgy of the first room is the doubling of the window room suggested by the
painted bullet hole. The crossing of the threshold of the entrance door is both entrance into the
gallery but also entrance to the space of thought of the exhibition. One of the main subjects of the
exhibition the depiction of horses is in the first room only implied in the title of the movie They Shoot
Horses, Don’t They?
The large painting Carriage with Tarpaulin leads into the main room. Survivors in Frankfurt on the
Main of the Second World War crowd on the carriage. Virtuously Wittwer translated with painterly
means a small black-and-white photography into a large canvas painting. The faces of the people
on the carriage are not distinguishable, but through their posture one can adumbrate their
characteristics. The group of people on the carriage represents a diversity of people dragged by two
stoic horses. Photographs of survivors on carriages are quite common. It seems that the depiction
of this kind of scenes was a nearly compulsive behaviour to capture the moment of survival.
Left to the Carriage with Tarpaulin extends in oversize a record on a light green ground. The painting
represents the legendary record ”Horses” by Patti Smith, released 10 November 1975. (Not as
wrongly noted in Wikipedia 13 December 1975, we thank Veit Stauffer for his profound research).
The grooves of the record are especially highlighted and reveal a nostalgia for vinyl and the mid
1970s. The round form alludes to target paintings by Jasper Johns – a subtle hint to pop art.
Right to the Carriage with Tarpaulin regroup a portrait of a woman on canvas and two watercolours
with mirrored horse depictions and the character Oh Anmer to a triad. The woman is Emily Davison,
a famous suffragette, who walked out of protest during the decisive moment of the Epsom Derby
1913 into the group of galloping horses. The legend tells, that she wanted to tie a sash around the
neck of the kingly horse Anmer and therefore confronted the horse. She didn’t survive the impact
and became the most well-known activist of women’s rights and a martyr. The story is enigmatic –
was Emily Davison seeking to die? „What Wittwer attracted to this story, is the fact, that there is no
clarity about the incident.” Philipp Meier notes in an excellent essay about Uwe Wittwer in the Neue
Zürcher Zeitung. (NZZ, Saturday 11 March 2017, p. 50).
Opposite of Emily Davison and the mirrored horse Anmer hangs a great series of nine variations of
the painting The Hay Wain (1820-21, National Gallery, London) by John Constable. In these
watercolours Wittwer reveals his mastery in the medium Constable hold in high esteem. In these
works Wittwer’s affinity for romantic English art is tangible. Wittwer focuses on details, enlarges
parts of the painting, crossfades and adds amongst other things texts from private letters. This
series of watercolours is comparable to a musical suite, in which new layers become audible,
respectively visible.
On the same wall as the series of watercolours hangs the equestrian painting Erlking after Baldung
Grien. Wittwer transferred the romantic figure of the Erlking into the Renaissance by following the
composition of the painting Knight, Girl and Death by Hans Baldung Grien, today in the Louvre in
Paris. The motive of the saving rider returns in the back room of the gallery in doubled form. In
Erlking – Mirror Wittwer unifies two variations of the subject from two different dates of origin. The
watercolour on the left emerged 1995 in Paris, the one on the right 2017 in Zurich: Here the
reflection on a subject matter over the period of more than 20 years is striking. On the left wall in the
back room a tapestry has been drawn directly with pencil on the wall. The recurrent pattern shows a
scene of a rest during a foxhunt. The original for the model is a large painting by John Ferneley from
1846, today in the Yale Center for British Art, in New Haven. On this elaborated wallpaper Wittwer
hung small paintings all depicting horses in different forms. There is a negatively rendered rocking
horse, a hanging, mirrored horse, packhorse in the war and a lonesome horse in a ruin landscape.
Two paintings of small horse sculptures from ceramics complete the ensemble. These figurines are
a symbol of bourgeoisie and have been made of Allach porcelain. And here a macabre level of
tranquillity establishes itself as nobody else than Himmler had built the Allach-porcelainmanufacture
in the concentration camp Dachau, in which prisoners had to execute compulsory
labour. No wonder the figurines partially depicted Nazi soldiers and their horses. Opposite of this
group hangs a large watercolour rendering geometrically distributed, sought after equestrian
figurines from the Nymphenburger porcelain manufacture.
Of course Wittwer is not a painter of horses, but horses are for him a multifaceted reason to paint.
He mentions an important book by Ulrich Raulff, Farewell to the Horse: The Final Century of Our
Relationship, published 2015, which fascinates him. There were some famous painter of horses,
George Stubbs and Théodore Gericault for example, who carved out the human side of the horses.
In the exhibition Wittwer revolves around different subjects and tightens several strands of
associations. He unfolds a panorama of impressions and references, which the public re-enacts in
the absorbed contemplation. In all the works references can be found to earlier group of works and
it becomes apparent that Wittwer engages in the prosecution of a large and coherent oeuvre.
The opening reception takes place Saturday, 6 May 2017 from 2 to 6pm. The artist will be present.