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Uwe Wittwer
Margate Sands
8. November - 7. Dezember 2013
Eröffnung: Donnerstag, 7. November 2013, 18 - 20 Uhr
Uwe Wittwer (*1954, lebt und arbeitet in Zürich) ist mit vielen Einzelausstellungen im In- und Ausland
hervorgetreten. Für seine zweite Ausstellung bei Lullin + Ferrari reflektiert er seine Arbeit und schafft eine
Gruppe von hochkonzentrierten, schwarzweissen Aquarellen.
Der Ausstellungstitel Margate Sands weist der Deutungsvielfalt der Arbeiten eine mögliche Richtung. Ohne
ein wenig Hintergrundinformation bleibt die Bezeichnung jedoch schleierhaft: Margate ist ein Ort am Meer in
der Grafschaft Kent etwa 120 Kilometer östlich von London und 40 Kilometer nördlich von Dover. Der
Landflecken ist eine vergessene Ausbuchtung der Britischen Inseln; selten verirren sich heute noch
Touristen an diese früher sehr beliebte Feriendestination. Wittwer wählte den Titel unter anderem, weil sich
der englische Schriftsteller T.S. Eliot 1921 in Margate aufhielt und den dritten Teil des langen Gedichts The
Waste Land schrieb, in der diese Passage steht: "On Margate Sands./I can connect/Nothing with
nothing./The broken fingernails of dirty hands./My people humble people who expect/Nothing." Neben dem
Gedicht besitzt Margate eine persönliche Ebene für Wittwer: Mit 17 Jahren im Jahr 1971 sah er das erste
Mal in Margate das Meer. Er besuchte dort einen Sprachkurs und schuf sich einen fundamentalen Zugang
zur englischen Lebensart und Kunst, die seither wichtige Bestandteile seines Lebens sind und seine
künstlerische Arbeit nachhaltig prägen. Auch ermöglichte ihm sein erster Besuch in England einen
wichtigen Kontakt mit der damals aktuellen Pop-Kultur. Immer wieder hielt sich Wittwer in der Folge in
England auf. Die englische Malerei unter anderen diejenige von John Constable und Hans Holbein d.J., die
grossartigen Sammlungen in London, insbesondere diejenige der National Gallery, sind ihm wichtiger
Anhalts- und Ausgangspunkt für seine Bildfindungen.
Ein zentraler Aspekt in Wittwers Arbeit ist die Idee des Gesamtwerks. Sein Werk ist nie abgeschlossen,
sondern er arbeitet von einem Bild zum anderen an einer Gesamtkonzeption. Zwischen den Werkgruppen
bestehen Zusammenhänge, Verbindungen, aber auch Reibungsflächen und Divergenzen. Wittwer
bezeichnet die Aquarellmalerei als die kleinere Schwester der Ölmalerei, die keine Fehler verzeiht und
deshalb eine genaue analytische Planung erfordert. Ein falsch gesetzter Pinselstrich fügt der Anlage des
Bildes einen unwiederbringlichen Schaden zu. Wittwer beruft sich auf die Leerstellen in der Aquarellmalerei
von Paul Cézanne und Paul Klee. Jedes Aquarell muss zuerst zu Ende gedacht sein, bevor er damit
beginnt. Eine der grössten Herausforderungen der Aquarellmalerei ist das weisse Blatt. Bei Ölbildern kann
Wittwer der weissen Leinwand ausweichen, indem er sie mit roter Farbe, Caput Mortuum, grundiert – in der
Ausstellung taucht Caput Mortuum im mittleren Raum als Wandfarbe auf. Das Papier der Aquarelle
übermalt Wittwer nicht, es strahlt hellweiss und ist im Werkprozess von zentraler Bedeutung.
In der Ausstellung Margate Sands beschäftigt sich Wittwer mit persönlichen Fragen der Erinnerung. In
seiner zeitgleichen Schau Der Brief in der Galerie Judin in Berlin (bis zum 23. November) aktivierte Wittwer
bereits eigene Familienalben. In beiden Ausstellungen untersucht er aus einer sehr privaten Perspektive
Fragen der Bewusstseinbildung und Erinnerung. Die Ausstellung in Zürich besitzt jedoch eine persönlichere
Färbung als diejenige in Berlin, indem Wittwer viele autobiographische Bilder als Grundlage der Aquarelle
benutzt. Wie schon in früheren Werkgruppen, etwa den Camp-Serien oder Bildern von unbekannten
Familien aus dem Internet, erörtert Wittwer inwiefern Erinnerung trügerisch ist und in welchem Verhältnis
Privatheit und Öffentlichkeit zueinander stehen.
Im ersten Raum der Galerie verankert Wittwer mit dem direkt an die Wand gekleisterten Inkjet Dreamland
die Ausstellung sowohl örtlich als auch thematisch. Hinter einer Tapete schemenhaft wiedergegeben ist das
Eingangsgebäude des Freizeitparks in Margate; ein Traumland mit Kinosälen, Achterbahn, Riesenrad, und
in den frühen 1970er Jahren mit Squash-Plätzen, einer Eisbahn und sogar einem Zoo. Dem Vergnügungspark
war kein grosser Erfolg beschieden – 2005 nämlich mussten die Betreiber Insolvenz anmelden. Seither
sind Bestrebungen im Gange "Dreamland" wieder auferstehen zu lassen.
Auf der Stirnwand hängt programmatisch in einer Vierergruppe die 1991 entstandene Serie Der Schläfer.
Wittwer thematisiert in diesen vier frühen Ölzeichnungen auf Papier den Wach-Traum-Zustand, der für die
Folge neuer Aquarelle im Hauptraum bestimmend ist.
Dort macht das Aquarell Die Welle den Auftakt. Dabei handelt es sich um eine Darstellung der verbrannten
Achterbahn in "Dreamland". Der Titel könnte auch auf Wittwers erste Beobachtung einer Welle am Strand
von Margate verweisen und lässt die Welle der Erinnerung in den Ausstellungsraum fluten.
Ein Schlüsselwerk der Ausstellung ist die Darstellung eines schlafenden Knaben. Dieses Bild besitzt ein
Pendant in der Berliner Schau. Es handelt sich hier um das erste Selbstporträt des Künstlers. Als
siebenjähriger Knabe liegt er auf einem stark gemusterten Teppich. Das Muster, ein zentrales,
wiederkehrendes Motiv in Wittwers Formenrepertoire, leitet über zu einem kleinformatigen Aquarell, das
lapidar mit einer Londoner Adresse Maresfield Gardens betitelt ist. An diese Adresse im nördlichen
Londoner Stadtteil Hampstead floh die Familie Freud aus Wien nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten
1938. Heute ist dort das Freud Museum untergebracht, das als eine der Hauptattraktionen die
originale, mit einem orientalischen Teppich überdeckte psychoanalytische Couch von Freud besitzt, die
Wittwer verdichtet ins Blickfeld setzt. Neben der Darstellung der Couch hängt ein Bild einer
Wolkenformation im August 1994 – eine Reminiszenz an den englischen Maler John Constable (1776-
1837), insbesondere seinem Versuch, die Flüchtigkeit der sich wandelnden Wolkengebilde zu fassen.
Daneben hängt prominent Der Spieler, Camp. Aus dem Titel wird ersichtlich, dass die Arbeit zur Folge
amerikanischer Camp-Bilder aus dem Vietnamkrieg gehört, mit denen sich Wittwer seit einiger Zeit
beschäftigt. Der Spieler legt mit verbundenen Augen Karten aus und scheint durch diese merkwürdige
Tätigkeit zu einer übergeordneten, seherischen Schicksalsfigur zu werden.
Das Aquarell Live at Leeds gibt die 1970 erschienene Schallplatte der Band "The Who", leicht vergrössert
und nicht vollkommen rund wieder. Auffallend ist, dass, wie auf dem Vorbild, jegliche Bezeichnung auf der
aquarellierten Platte fehlt. Die Darstellung ist eine Huldigung dieser für die englische Pop-Kultur
bahnbrechenden Aufnahme.
Das Nachtstück Great Eastern Street zeigt eine Hauptstrasse im Osten von London. London übte auf
Wittwer bereits während seines Aufenthalts in Margate eine grosse Anziehungskraft aus, die die englische
Kapitale nie eingebüsst hat. Der Osten Londons war erster Aufenthaltsort für Zuwanderer und besass
aufgrund der Nähe zu den damaligen Docks eine raue Stimmung. Durch weisse Striche imitiert Wittwer im
Aquarell Beschädigungen der fingierten Fotografie und rückt die Darstellung in eine Unentschiedenheit
zwischen Annäherung und Distanzierung.
Die Arbeit Ballsaal stellt eine berührende Szene aus dem Film They Shoot Horses, Don't They? von Sidney
Pollack aus dem Jahr 1969 in den Brennpunkt des Interesses. In einem cinematographischen Breitformat
sind die beiden Hauptdarsteller Jane Fonda und Michael Sarrazin in enger Umarmung wiedergegeben. Der
Ballsaal stellt einen Bezug zu Margate her, da er sich durchaus auf dem Pier des einst sehr populären
Seebades befinden könnte.
Eine Landschaftsbühne öffnet den Blick auf die ikonischen Berge Eiger, Mönch und Jungfrau des Berner
Oberlandes, die von Bern und Burgdorf aus – frühere Wohnorte von Wittwer – an schönen Tagen gut zu
sehen sind. Hier sind sie wie durch einen gemusterten Vorhang lediglich schemenhaft erkennbar und
werden auf eine ferne Kulissenebene gerückt.
Neben dem Aquarell Bühne hängt als Schluss- und gleichzeitig aber auch als erneuter Ausgangspunkt der
Ausstellung die Landschaft Margate negativ. Sozusagen Rücken-an-Rücken mit dem grossformatigen
Inkjet Dreamland zeigt dieses Blatt in negativer Umkehrung das Eingangsgebäude "Dreamland" und ein
Hochhaus in unmittelbarer Nachbarschaft des Vergnügungsparks.
Die Ausstellung öffnet dem Publikum eine grosse Spannweite von Interpretationsmöglichkeiten. Sie ist nicht
dialektisch aufgebaut, jeder Besucher und jede Besucherin kann selber Bezüge, Referenzen, Erzählstränge
und Widersprüche zwischen den einzelnen Aquarellen herstellen. Wittwer stellt fest, dass Emotionen sich
fruchtbar auf den Werkprozess auswirkten. In seiner Ausstellung Margate Sands hebt Wittwer auf
wunderbare Art und Weise persönliche Erfahrungen ins Allgemeine und ermöglicht dem Publikum, das sich
in der Betrachtung assoziativ Bedeutungsebenen erschliesst, Momente von tiefer Einsicht.
Die Eröffnung findet in Anwesenheit des Künstlers am Donnerstag, 7. November 2013 von 18 bis 20 Uhr statt.
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Uwe Wittwer
Margate Sands
8 November – 7 December 2013
Opening reception: Thursday, 7 November 2013, from 6 to 8 pm
Uwe Wittwer (*1954, lives and works in Zurich) has become prominent with many solo exhibitions in
Switzerland and abroad. For his second solo exhibition at Lullin + Ferrari he reflects his works and
creates a group of highly concentrated watercolours in black and white.
The title Margate Sands is opening up a wide field of possible interpretations. Without a certain
background knowledge though the title remains mysterious: Margate is a seaside town in Kent, 120
kilometres east of London and 40 kilometres north of Dover. The location is a forgotten dent of the
British Islands; nowadays tourists seldom find their way to this once very popular holiday
destination. Wittwer chose the title amongst other reasons because the English writer T.S. Eliot
stayed 1921 in Margate and wrote the third part of the long poem The Waste Land, in which this
passage is included: "On Margate Sands./I can connect/Nothing with nothing./The broken
fingernails of dirty hands./My people humble people who expect/Nothing." Besides the poem
Margate holds a personal connection to Wittwer: 1971, 17 years old, he saw there for the first time
the sea. He attended an English course and developed a fundamental approach to the English way
of life and English art. Since then these ingredients have become important features of his life, and
distinctive for his way of making art. Also his first visit in England allowed him an important contact
with the English pop culture of the early 1970s. Since then England has become a main destination
for Wittwer. English painting amongst others the work by John Constable and Hans Holbein the
Younger, the excellent collections in London, particularly the one of The National Gallery, are crucial
points of reference for Wittwer’s art.
A major aspect of Wittwer’s work is the idea of creating an ongoing oeuvre. His oeuvre is never
accomplished, but he works from one picture to the next on an overall concept of image-making.
Between the different groups of works exist relations and connections, but also frictions. Wittwer
calls watercolour the little sister of painting, who never forgives mistakes, and therefore requires an
analytical planning. A stroke wrongly placed inflicts an irrecoverable damage on the composition of
the sheet. Wittwer refers to the blank spots in the watercolours of Paul Cézanne and Paul Klee.
Each watercolour has to be conceived before Wittwer starts with it. One of the biggest challenges in
watercolour is the white sheet of the paper. In oil painting Wittwer can avoid the white canvas by
applying a red primer, Caput Mortuum – in the exhibition Caput Mortuum emerges in the main room
as wall colour. Wittwer doesn't paint over the paper in watercolour it shines bright white and is
pivotal in the conception of the work.
In the exhibition Margate Sands Wittwer explores personal considerations of memories. In his
simultaneous show The Letter in the Galerie Judin in Berlin (until 23 November 2013) Wittwer
already activated for the first time his family history by opening up photo albums and archive boxes
of his parents and grandparents. In both exhibitions he explores from a very private point of view
questions of sensitisation and memory. Compared to the show in Berlin the show in Zurich holds an
even more personal hue: Wittwer used for his watercolours in Zurich many autobiographical images
as a starting point. Like in earlier series of works, for example the images of American Camps in the
Vietnam War or of unknown families from the internet Wittwer reconsiders to what extent memory is
delusive and how privacy and publicity are related to each other.
With the directly on the wall pasted large inkjet Dreamland in the first room of the gallery Wittwer
anchors the exhibition locally as well as thematically. The entrance building to the amusement park
in Margate is rendered apparitional; a land of dreams with movies, a scenic railway (roller coaster), a
big wheel, and in the early seventies squash grounds, skate ring, and even a zoo. Dreamland was
not very successful and closed to the public in 2005. Since then attempts are undertaken to
rejuvenate the amusement park. On the small wall in the entrance room hangs programmatically a
group of four oil drawings on paper called The Sleeper from 1991. In these works Wittwer rendered
early in his career a dream-awake-condition, which is determinant for the mood of the series of new
watercolours in the main room of the gallery. There the watercolour The Wave, a depiction of the
burnt roller coaster in “Dreamland“ opens the series of works. The title might refer to Wittwer's first
observation of a wave on the shore in Margate and might – symbolically speaking – let the wave of
memories flow into the exhibition space.
A crucial work in the exhibition is the depiction of a sleeping boy – an image which has a pendant in
Wittwer's Berlin show. It is the first self-portrait of the artist. As a seven year old he sleeps on a
strongly patterned carpet. The pattern is a central, recurring feature in Wittwer's repertory and leads
over to a small, very dense watercolour, which is lapidary titled with the London address Maresfield
Gardens. To this place in Hampstead in North London escaped the Freud family from Vienna after
the National Socialist took power in Austria in 1938. Today the Freud Museum is situated there and
holds as one of its main attractions the original psychoanalytic couch of Sigmund Freud covered by
oriental carpets. Wittwer focuses in this amazing watercolour on the condensed depiction of the
enigmatic couch. Beside this work hangs the image of a cloud formation in August 1994 – a
reminiscence to the English painter John Constable (1776-1837), especially to his aim to capture
the changing formation of clouds. Next to the landscape hangs prominently The Player, Camp. The
title indicates, that the work belongs to the series of American camp images from the Vietnam War,
a subject Wittwer deals with for some time. Blindfolded the player lays up cards and appears in this
strange occupation as a superior, visionary figure of destiny. The watercolour Live at Leeds renders
the 1970 released record by the band "The Who", slightly enlarged and distorted. It is noticeable
that as on the original record the painted cover lacks any description. The depiction is an homage
to this seminal recording for English pop culture. The night piece Great Eastern Street shows a main
street in London's East End. Already during his stay in Margate London had a huge appeal to
Wittwer; a fascination the Capital has never lost. East London was the first destination for
immigrants and holds because of the docks a rough mood. With white omissions Wittwer imitates
on the watercolour damages to the paper and places the depiction in the indecision between
approximation and alienation.
The work Ballroom focuses on a touching scene in the movie They Shoot Horses, Don't They?
(1969) by Sidney Pollack. In a cinematographic wide format the two main actors Jane Fonda and
Michael Sarrazin are rendered in a close embrace. Ballroom establishes a connection to Margate as
it could be situated in the famous pier of the once popular seaside resort.
A window opens the view on the iconic landscape in the Bernese Oberland with the three
mountains Eiger, Mönch and Jungfrau. On sunny days Wittwer could see this amazing panorama
from his earlier places of domicile Berne and Burgdorf. Here the mountains can barely be detected
through a patterned curtain, which places the mountains on a distant stage.
Next to the work Stage hangs as a final point but also at the same time as a new starting point of
the exhibition the landscape Margate Negative. So to speak back-to-back to the large inkjet
Dreamland this work shows in a negative reversal the entrance building to Dreamland and a multistorey
building close to the amusement park.
The exhibition opens to the public a wide field of possible interpretations. The show is not to be
read with a dialectical key, but each visitor has to create on his own references, narratives and
contradictions between the single watercolours. Wittwer states, that emotions have been important
in the process of making the works. In Margate Sands Wittwer transforms in an amazing way
personal experiences into general observations and statements. Through an associative
contemplation of the works the viewer gains many layers of meaning and moments of deep
understanding.
The opening reception takes place Thursday, 7 November 2013 from 6 to 8pm. The artist will be
present.